Warum sammeln Menschen Trikots?

Rolf reicht’s nicht!

In den Schränken von Sammlern wie Rolf Gramer stapeln sich tausende Trikots. Und sie sammeln immer weiter. Ist das noch ein Hobby oder schon behämmert?


Man könnte sagen: Rolf Gramer wurde zum Sammeln geboren. Denn Rolf Gramer hat verdammt große Hände. Erzählt er von seinen Trikots und davon, wie diese ihren Weg in seine Schränke oder an seine Kleiderstangen gefunden haben, dann erzählen seine Hände stets mit. Sie klatschen bei der Pointe ineinander, „Ha! So ist’s gewesen“, sie schlagen nach rechts oder links aus, wenn das Trikot erst ein paar Umwege nehmen musste, bevor es bei ihm zu Hause ankam. Sie tippen mit einem Finger an seine Stirn, wenn er besonders clever und vorausschauend agieren musste, um sich ein begehrtes Trikot zu schnappen, sie malen Kreise in die Luft und schlagen Schneisen in den Raum. Sie sind genau wie Gramer selbst: voll auf Sendung.

Ortstermin Oberschopfheim bei Friesenheim bei Lahr bei Freiburg. Ein großes Neubauhaus, weiße Wände, Fliesenböden, gepflegter Garten, sattgrüner Rasen, blauer Himmel, gigantische Sonnenblumen, hinterm Zaun ein Maisfeld, direkt dahinter der Schwarzwald. Und vor allem: Hier-ist-die-Welt-noch-in-Ordnung-Ruhe. Die nur durchbrochen wird, wenn ein Nachbar den Rasen mäht. Oder wenn Gramer spricht. Die ersten Anekdoten sprudeln aus ihm bereits heraus, bevor man ihn als Besucher zum ersten Mal richtig gesehen hat, man ist noch nicht mal durch die offenstehende Eingangstür gegangen und die Treppen hochgestiegen zu seinem Trikotlager im ersten Stock, da spricht er oben schon von „Herze“, der ihm das 98er-Axel-Kruse-Hertha-Trikot mit der roten Rückennummer 20 besorgt habe, match prepared natürlich, also „spielfertig“, doch zu den Begrifflichkeiten der Sammlerszene später mehr.


Mit „Herze“ meint er Ex-Profi Hendrik Herzog, der seit fast 20 Jahren Zeugwart bei Hertha und offenbar ein Freund von Gramer ist. Der wiederum von Zeugwarten und Teammanagern und Schiedsrichterbetreuern spricht, als wisse jeder genau, wen er mit den jeweiligen Vor- oder Spitznamen meint. Der Herze, der Franco (Franco Lionti, Eintracht Frankfurt), der Maik und die Claudia (Maik und Claudia Richter, RB Leipzig), der Erich (Erich Schneider, KSC). Man braucht sich als Reporter keinen Gesprächseinstieg zu überlegen, weil Gramer von sich aus volle Möhre ins Gespräch reinspringt, ein Mann wie eine Abrissbirne, wuchtig und kraftvoll, die großen Hände, die breiten Schultern, der massive Brustkorb, dazu eine Dauerwelle, bei der Jean-Marie Pfaff vor Neid erblassen würde („Ich trag sie so lange – jetzt muss ich es durchziehen, bis sie wieder modern ist.“). Nie im Leben würde man denken, dass er schon 57 Jahre alt ist, die Energie, der Elan, das Südbadisch-Business-Denglisch, das in seinen Berufsjahren bei Nike und 11teamsports entstanden sein muss. Dazu die leuchtenden Augen, wenn er seine Geschichten rausknallt. Die Sammlung von Fredi Bobic habe er zum Beispiel über dessen Berater ergattert, deshalb besitze er jetzt saumäßig viele Verteidiger-Trikots mit der Nummer vier, früher hätten die Spieler ja wenn überhaupt mit ihrem direkten Gegenspieler getauscht, der Neuner Bobic also mit den Vierern. Er spricht von echten „Brettern“, das pinke HSV-Trikot aus den Achtzigern, das gelbe Tetra-Pak-Trikot der Eintracht, das bunte Neunziger-Jahre-Nationaltrikot von Südkorea aus der Bobic-Sammlung. Und immer wieder von den Zeugwarten. Sie sind seine wichtigste Quelle, sein Einfallstor zur Originaltrikot-Welt. Oder wie Rolf Gramer sagt, der vielleicht jüngste 57-Jährige der Welt: der Door Opener.


Circa 3000 dieser Originaltrikots hat er mittlerweile gesammelt, ganz genau weiß er es selbst nicht, er hat seine Sammlung nie katalogisiert oder eine Excel-Tabelle angelegt wie andere Sammler. Die Trikots stapeln sich – genau wie Autogrammkarten, Anstecknadeln oder Schuhe – in Regalen oder hängen an Kleiderbügeln, viele liegen auch zusammengefaltet in Badelatschen-Kartons von Nike, größtenteils nach Verein geordnet, teilweise aber auch bunt gemischt. Christoph Kramer, Nummer 6, Borussia Mönchengladbach, Wataru Endo, Nummer 3, VfB Stuttgart, Bastian Schweinsteiger, Nummer 31, Bayern München, Christoph Dabrowksi, Nummer 5, VfL Bochum, Zdenek Pospech, Nummer 3, FSV Mainz 05, Artur Sobiech, Nummer 9, Hannover 96, Dsmitryj Chlebassolau, Nummer 30, Dynamo Dresden, Hernanes, Nummer 8, Lazio Rom, Jack Rodwell, Nummer 17, Manchester City, Manasseh Ishiaku, Nummer 19, MSV Duisburg.

Er hat alte und neue Trikots, Trikots von Stars und Trikots von Spielern, die nicht mal Nerds kennen, er hat sich weder auf einen Verein noch auf eine Epoche spezialisiert. Er sammelt alles, was er mit seinen Händen zu fassen bekommt. Die einzigen Kriterien: Er zahlt nicht für Trikots – und verkauft auch nicht, selbst bei unerhört guten Angeboten. Mal ein Präsentkorb des örtlichen Metzgers für den Zeugwart hier, mal ein Baumarktgutschein für den Schiri-Betreuer da, das schon. Aber eben kein Cash. „Ich nenne es: Give and get. Und die Zeugwarte vertrauen mir.“ Außerdem wichtig: Er sammle keine Merchandise-Artikel, keine Fanshop-Ware. Die Trikots müssten match prepared, also vom Zeugwart für ein konkretes Spiel vorbereitet worden sein, mit exklusiven Aufdrucken und Badges, die man so als Fan nicht einfach im Laden kaufen kann. Keiner habe beispielsweise mehr Trikots mit den verschiedenen Badges aus der Corona-Zeit am Ärmel, sagt Gramer, vermutlich habe auch keiner mehr Sondertrikots. Als bissiger Journalist könnte man nach zehn Minuten mit ihm behaupten: ein Prahlhans, ein Angeber! Doch man kann auch deutlich milder auf diesen wahnsinnig positiven und gastfreundlichen und selbstbewussten Mann schauen. Rolf Gramer liebt das, was er tut, und zehn Minuten mit ihm reichen, um von seiner Begeisterung angesteckt zu werden. Ein originales Delron-Buckley-VfL-Bochum-Trikot mit Faber vorne drauf! Ein grün-schwarzes Markus-Happe-Trikot aus der Vizekusen-Ära! Ein Ehrmann-KSC-Trikot von Marc Keller mit Rasenflecken! Irre! Mehr davon! Gramer liebt es, seine Trikots zu zeigen, zu stöbern und zu erzählen. „Ein Trikot wird nicht alt“, sagt er später, die Hände sind für einen kurzen Moment ganz still, vielleicht ist er wirklich schon 57, „ein Trikot wird interessant.“


Menschen haben schon immer gesammelt, erst Pflanzen und Kleintiere zum Überleben, später auch nicht zwingend Überlebenswichtiges wie Überraschungseifiguren oder Briefmarken. In Verhaltensforschung und Psychologie gibt es verschiedene Ansätze, den Sammeltrieb zu erklären, mal ist von Dominanzgehabe die Rede (Menschen möchten Dinge besitzen, über sie herrschen, das Sammeln ist eine Art Machtdemonstration), mal von einer Flucht aus dem unübersichtlichen Alltag in die übersichtliche Sammelwelt. Sigmund Freud sah in seiner Sammelbegeisterung für Skarabäen und Ringe eine Kompensation unerfüllter sexueller Bedürfnisse, auch unterbewusste Ängste können zum Sammeln führen. Auf der anderen Seite erlangen und konservieren Menschen durch das Sammeln Wissen; Museen und Ausstellungen wären ohne Sammler undenkbar. Zudem pflegen Menschen durch ihre Leidenschaft Kontakte, sie entspannen sich beim Sammeln, sie sind beschäftigt, sie stillen ihre Neugier.

Wann genau Menschen angefangen haben, Trikots zu sammeln, lässt sich schwer datieren. Es ist im Vergleich zu anderen Sparten allerdings ein recht junges Phänomen. Allein schon, weil früher kaum Spielertrikots in den Umlauf kamen, die Vereine ließen nur wenige Exemplare produzieren, Profis spielten so lange mit ihren Baumwollleibchen, bis sie hinüber waren, am Saisonende wurden oft ganze Trikotsätze einfach weggeschmissen. Es gab also weder Angebot noch echte Nachfrage. Das änderte sich mit der Kommerzialisierung. Zum einen konnten Fans jetzt einfach Trikots im Shop kaufen, zum anderen standen Profis pro Saison deutlich mehr Trikots zur Verfügung. Sie fingen an zu tauschen und zu verschenken und zu verkaufen. Mittlerweile ist eine große, diversifizierte und umkämpfte Szene entstanden. Es gibt mehrere Sammler für fast jeden Verein, Fans, die sich auf bestimmte Jahre und Saisons konzentrieren und solche, die neben Trikots auch Wimpel, Eintrittskarten oder Stadionmagazine sammeln. Im Internet kann man Kleinwagenpreise für besonders exklusive Ware bezahlen – und läuft stets Gefahr, von Fälschern übers Ohr gehauen zu werden. Sammler legen Instagram- oder eigene Internetseiten an, auf denen sie ihre Trikots zur Schau stellen, sie heißen trikot-sammlung.de, hsvtrikot­traeume oder trikotgeschichte.de. Und sie alle einen zwei Dinge: die Abneigung von Fanshopware – und der Wunsch nach besonders raren Stücken.


Da sind zum Beispiel Bernd Kreienbaum aus Bochum, der sich komplett auf den VfL spezialisiert hat, oder Georg Mooshofer, der größte und professionellste Bayern-Sammler. Kreienbaum (vflbochum-spielertrikots.de) sammelt seit den frühen Nullern, er hat fast 700 Trikots, 570 davon allein vom VfL, alle matchworn oder match prepared. Im Gegensatz zu Gramer führt er penibel Protokoll, in seiner Excel-Tabelle trägt er für jedes Trikot Größe, Spielername, Rückennummer, Hersteller, Sponsor, Farbe, Ärmellänge, Einkaufspreis und wenn möglich das Spiel ein, in dem es getragen wurde. Sein wertvollstes Stück: ein Trikot aus der Oberliga-West-Zeit der Bochumer, das zwischen 1959 und 1963 im Einsatz war. An dem Trikot habe er zwei Jahre gebaggert, der ehemalige VfL-Spieler Dieter Versen sei oft an seinem Elternhaus vorbeigeradelt – und habe zu Beginn immer abgewunken, wenn Kreienbaum mit ihm über Trikots sprechen wollte. „Irgendwann hat er aber gemerkt, dass ich es ernst meine und mich ein bisschen auskenne. Dann hat er mich eingeladen und mir das Trikot für einen Appel und ein Ei vermacht.“ Kreienbaum interessiert sich für ältere Trikots, auch weil es heutzutage viel zu viele verschiedene Versionen pro Saison gebe – und inflationär hohe Stückzahlen. Wertvoller seien deshalb auch die alten Sachen, sagt Kreienbaum. Fast 30 000 Euro habe er bisher ausgegeben, doch der aktuelle Wert seiner Sammlung sei um ein Vielfaches höher. „Ich habe als Selbständiger zu spät gemerkt, dass fondsgebundene Lebensversicherungen nicht so eine gute Idee sind. Insofern sehe ich die Trikots als Altersvorsorge an.“

Über konkrete Zahlen will Georg Mooshofer, der Bayern-Sammler (trikotsammlung.com) , am Telefon nicht sprechen. Klar ist allerdings: Für Bayern-Trikots werden andere Preise gezahlt als für Bochum-Trikots. Und Mooshofer hat fast 700 davon. Sein Ziel ist es, jedes Modell zu finden, in dem der Rekordmeister je gespielt hat, bislang hat er fast 6000 Spiele ausgewertet und über 700 Varianten mit verschiedenen Mustern, Nummern, Werbung oder Patches erfasst. „Allein 2013/14 hat Bayern in mehr als 30 verschiedenen Varianten gespielt, komplett inflationär“, sagt Mooshofer. Er interessiere sich in erster Linie für das, was vor 1990 passiert sei, und besitze knapp 1000 VHS-Kassetten. Vor allem der erste Corona-Winter sei intensiv gewesen. „Ich habe mir damals alle Bayern-Partien von 1982 bis 1989 im Schnelldurchlauf angeschaut. Und bei jedem Spieler auf Pause gedrückt, mir sein Trikot von vorne und von hinten angeschaut. Gibt es Abweichungen? Das waren interessante Monate.“ Einmal habe ihm jemand in sein Website-Gästebuch geschrieben und von einem originalen Trikot aus den Sechzigern berichtet. Mooshofer schlug zu – und suchte neun Jahre, bis er den Einsatz des Trikots verifizieren konnte. „Ich habe zunächst einen sehr ausgeblichenen Zeitungsschnipsel vom Münchner Merkur gefunden und vermutet, dass auf dem Foto dieses Trikot abgebildet sein könnte. Und bin dann in die Stadtbibliothek nach München gefahren, wo es alte Merkur-Ausgaben auf Mikrofilm gibt. Dort habe ich gesucht und gesucht und gesucht – und irgendwann ein Bild von Dieter Brenninger mit diesem Trikot gefunden. Den Artikel habe ich abfotografiert, mit dem Foto und dem Trikot bin ich zu Brenninger gefahren: Was kannst du mir dazu erzählen? Der drehte das Trikot um und sagte: ‚Das ist ja meine Rückennummer! Dieses Trikot habe ich getragen!‘“ Solche und ähnliche Begegnungen mit ehemaligen Spielern, das Suchen und Rätseln, all das mache die Faszination beim Sammeln aus, sagt Mooshofer genau wie VfL-Mann Kreienbaum. Außerdem, auch da sind sie sich einig, gehe ohne ein gutes Netzwerk aus Zeugwarten, anderen Sammlern und Ex-Profis gar nichts. Und keiner hat ein besseres Netzwerk als Rolf Gramer.


Zurück nach Oberschopfheim, zurück zu Allessammler Gramer. Der noch gar nicht erzählt hat, warum er eigentlich angefangen hat zu sammeln. Also, warum? Die Kurzfassung lautet in etwa so: Geboren in Offenburg, aufgewachsen in Oberschopfheim, als Siebenjähriger im Tor gelandet, danach nicht mehr rausgekommen. Als Erwachsener spielte er in der viertklassigen Verbandsliga und wurde von Bernd Schmider trainiert, der einst für Gladbach, Nürnberg und Stuttgart in der Bundesliga aufgelaufen war. Schmider wiederum arbeitete nach seiner aktiven Karriere als Deutschlandchef von Nike – und nahm Gramer, gelernter Mediengestalter, unter seine Fittiche. „Berni meinte: ‚Rolf, ein Irrer wie du, immer im Training, immer voll dabei: Mindestens zweite Liga – wenn ich dich früher kennengelernt hätte!‘ Und irgendwann holte er mich zu sich in die Firma. Er sagte: ‚Rolf, die bei Nike frisst du alle auf.‘“ Zunächst habe Gramer sich um die Schuhe der Spieler gekümmert – sie „geserviced“ – und so erste Kontakte zu Profis geknüpft. Das erste Matchworn-Trikot sei ein Geschenk von Maik Franz gewesen, und etwas an diesem KSC-Trikot habe Gramer nicht losgelassen. „Ich wollte dann ein Trikot von jedem Erst- und Zweitligaverein sammeln. Aber da kommen ja ständig neue Mannschaften dazu!“

Je mehr Verantwortung er bei Nike bekommen habe, desto besser seien seine Kontakte, desto größer seine Sammlung geworden. Mittlerweile ist er nach 18 Jahren Nike zu 11teamsports gewechselt – und darf als einziger aus „dem Markt“ am jährlichen DFL-Zeugwarttreffen teilnehmen. Ein klarer Wettbewerbsvorteil. Und vermutlich auch der Grund, warum er bislang kaum Kontakt zu anderen Sammlern pflegt. Dabei sei er grundsätzlich zum Tauschen bereit, schließlich hat er ja einige Modelle doppelt. Ob er die größte Sammlung Deutschlands habe? Nein, sagt Gramer, sicher nicht. „Ganz bestimmt gibt es einen Zeugwart mit deutlich mehr Trikots. Die zeigen ihre Sammlungen nur keinem.“ Gramer selbst würde seine irgendwann sehr gerne präsentieren, am liebsten in einem Museum, am allerliebsten direkt im nahegelegenen Europa-Park. Gramer denkt groß. Allerdings muss er bis dahin zumindest mal eine eigene Webseite erstellen. Und vor allem noch ein bestimmtes Trikot erwischen: das von Oliver Kahn. „Den fand ich immer gut. Wir haben sogar mal gegeneinander gespielt, da war er noch beim KSC. Ich habe damals ein Foto mit ihm gemacht, ein bisschen geredet. Aber nicht nach seinem Trikot gefragt.“ Gramer hält sich die großen Hände vors Gesicht und schüttelt den Kopf. „Unglaublich, oder?“ Dann klatscht er sie zusammen, weiter geht’s, positiv denken, nach vorne schauen. „Gibt zwar kaum noch welche, aber vielleicht habe ich ja irgendwann Glück?“ Um dem Glück auf die Sprünge zu helfen, schickt Gramer später noch eine SMS mit Hinweis auf seine Sammler-Mailadresse. „Darf gerne im Text auftauchen!“ Wer also ein Kahn-Trikot zum Tausch anzubieten hat, kann sich direkt bei ihm melden: rg-jersey-collector@web.de. Vielleicht gibt’s im Gegenzug ja einen Präsentkorb vom Metzger.

(aus 11Freunde Spezial „Trikots!“)

1 „Gefällt mir“