Wie das Trikot in Mode kam: Alle wollen Stoff

Überall öffnen Vintage-Trikot-Shops, Popstars treten im Outfit von deutschen Zweitligisten auf, Kim Kardashian läuft im Jersey der AS Roma durch Los Angeles. Wie konnte es so weit kommen?


Zwei Berührungen braucht er nur. Die Annahme mit der Innenseite, dann ein Außenristpass. Wie Francesco Totti dort im Halbfeld den Ball verarbeitet, verschlägt einem regelrecht die Sprache. Dann Gabriel Batistuta. Der Argentinier leitet mit dem Kopf auf den jungen Vincenzo Montella weiter. Der versenkt. Rechts oben, keine Chance für Parmas Gianluigi Buffon. Es ist das 3:0, der italienische Meistertitel 2001 scheint in diesem Augenblick sicher. Montella rennt auf die Kurve zu. Vielleicht streckt er im Jubel auch seine Zunge heraus – klar zu erkennen ist das aber nicht, immerhin sind er, Totti, Batistuta und der traurige Buffon bloß eine Video-Projektion auf einer anthrazitgrauen Wand. Neben ihnen ruht ein Stillleben: Eine Comic-Zeichnung von Zinédine Zidane, in einem goldenen Rahmen darunter grüßt Andrea Pirlo im Juve-Trikot samt Heiligenschein. Kevin De Bruyne ist auch da, auf einem riesigen Wandteppich im Jesus-Look, eines der etwas neueren Ausstellungsstücke. Unter den Legenden hängen ihre Trikots. Echter Stoff, nicht gemalt oder auf Video. Ein Ganzkörperspiegel steht zwischen ihnen. Und ein LED-Schild: „RETRO FOOTBALL STORE“, leuchtet es darauf in Neon. Und verrät: Hier geht es um Fußball. Aber vor allem auch um Nos­talgie – und um das Geld, das man mit ihr verdienen kann.

Eigentlich sehen sie alle gleich aus, diese Vintage-Läden, die die Großstädte in den letzten Jahren im Sturm erobert haben: alte Klamotten, meist Markenware, Lichterketten, Kleiderstangen, moderne Kunst an den Wänden. Da ist auch Stunner in Manchester keine Ausnahme. Der einzige Unterschied ist, dass hier weder Prada noch Gucci über die Theke wandern, sondern Adidas und Kappa. Stunner verkauft vornehmlich alte Fußballtrikots, und die Kleiderstangen im Laden sehen aus wie Kabinen eines utopischen All-Star-Teams: Beckham, Zidane, Cantona, Ronaldo (der echte). An den Kleiderbügeln kleine neonfarbene Preisschilder: 40, 150, manchmal nahe 500 Pfund. Manche Konkurrenten wie der Marktführer Classic Football Shirts rufen sogar vierstellige Summen für Trikots auf. In London (LineUp), Lissabon (Boutique Soccer) oder Brüssel (90Brussels) machen Vintagehändler so ihr Geschäft. Und treffen damit einen Nerv, nicht nur bei Fußballfans. Was einiges über den Fußball verrät: Dass er schick sein kann, zum Beispiel. Und dass er sich längst nicht mehr nach denen richtet, die sich noch für Spielstände und Tabellen interessieren.

Das Geschäft mit Vintage-Shirts boomt, nostalgischer geht es kaum

Polina Vynohradova und Serge Shcherbyna sind in Eile. Hier noch ein Klick, da ein Foto, drüben einen Kleiderbügel aufhängen. Es gibt einiges zu tun, denn ihr Geschäft steht derzeit hoch im Kurs, in zwei Tagen veranstalten sie hier ein Public Viewing: Es erscheint eine Dokumentation über ihren Laden. Stoff für Filme liefern die beiden allemal. Angefangen hat die Geschichte von Stunner im Jahr 2017, damals begann Serge, in Kiew alte Trikots zu sammeln und im Netz zu verkaufen. 2020 eröffneten Polina und er in der ukrainischen Hauptstadt ihren eigenen Laden. „Einen Tag, bevor die erste russische Rakete einschlug, haben wir das Land verlassen“, sagt Serge rückblickend. Erst hangelten sich die beiden durch Brüssel und Italien, verdienten kleines Geld als Videoreporter und ließen sich für Spiele der Serie A akkreditieren, um im Pressebereich gratis essen zu können. Eigentlich wollten sie schnellstmöglich wieder in ihre Heimat zurück. Aber der Krieg nahm nun einmal kein Ende, und so verkaufen die zwei seit 2022 ihre Shirts in einem Townhouse-Erdgeschoss in der South King Street im Stadtzentrum von Manchester. In dieser Gegend kann man auch teure Sonnenbrillen, Porzellanwaren oder Analogkameras kaufen, das Café nebenan bietet Flat Whites und Küchlein für ein halbes Vermögen an. Auf kostenlose Mahlzeiten sind Vynohradova und Shcherbyna nicht mehr angewiesen. Pro Tag verkaufen sie hier mal zehn Shirts, mal bloß ein einziges. Online laufe das Geschäft aber immer. Trikots von Manchester United seien am beliebtesten, David Beckham ist der Evergreen schlechthin. Ansonsten werde oft nach Frankreichs WM-Trikot von 1998 gefragt, nach Brasilien, AC Mailand oder dem Nintendo-Trikot der Fiorentina. Während der EM stiegen auch England-Shirts im Kurs. Anhand der Nachfrage könne man manchmal die sportliche Leistung der Teams nacherzählen, sagt Serge. Zuletzt seien deshalb sogar Trikots von Bayer 04 Leverkusen gefragt gewesen.

Außer Polina und Serge beschäftigt Stunner keine weiteren Mitarbeiter.

Heute, an einem Dienstag, ist es recht ruhig im Stunner. Polina lässt Jazzmusik laufen, dann schmeißt sie den Videoprojektor an. Erst mal keine Doku, sondern „Football Italia“ zeigen sie hier, ein britisches Programm aus den Neunzigern mit den Highlights der Serie A. Nostalgischer geht es für viele englische Fans kaum. Auch Polina und Serge sind Fans der Calcio-Ästhetik. Die Ukrainer könnten auch ein Influencer-Paar sein, das sein Geld mit schicken Streetwear-Fotos verdient. Oder Designstudenten. Spricht man mit ihnen über Trikots, geht es schnell um Details: Kampagnen, Kragen, Prints.

Jeans, Silberkettchen, Fußballtrikot

An Serge und Polina kann man gut den heutigen Umgang mit Fußballtrikots erklären. Er ist Fußballfan, und erzählt mit leuchtenden Augen von seinem ersten Trikot, ein Real-Madrid-Jersey von Roberto Carlos. „Ich war ein großer Fan“, sagt er. Polina dagegen interessiert sich weniger für Fußball. Sie schwärmt nicht von Tottis erstem Kontakt oder Batistutas Kopfball. Euphorisch wird die 28-Jährige eher, wenn es um die Trikotprints der Neunziger geht. „Trikots sehe ich eher als Style-Objekte“, erklärt sie. Die Idee, Trikots kombiniert mit Jeans und anderen Alltagsklamotten für Social-Media-Seiten zu fotografieren, stammt von ihr. Auch heute steckt sie ein altes Deutschland-Trikot in einen schwarzen Maxirock, als wäre das Hemd eine schicke Bluse und keine Sportklamotte.

So steht Polina stellvertretend für einen neuen Trikot-Trend, der vor einiger Zeit den Namen „Bloke Core“ bekam. Unter diesem Hashtag sind auf Instagram mittlerweile knapp 100 000 Posts zu finden, auf TikTok noch unzählige mehr. Die beliebtesten Clips bekamen Millionen von Likes. Mit dem Begriff ist ein Klamottenstil gemeint, der an die Blokes erinnern soll, die jungen englischen Männer der neunziger Jahre. Blokes tragen Trikots nicht nur auf dem Spielfeld oder im Stadion, sondern auch im Alltag, meist lässig in die Jeans gesteckt. Unter #BlokeCore wimmelt es von jungen Männern und Frauen, die in Shirts von Milan, Italien, Brasilien und Co. posieren. Als wären sie einmal durch den Stunner-Laden gelaufen und hätten ein halbes Vermögen dagelassen.

Dabei war das Fußballtrikot nicht immer in Mode. Vor den Neunzigerjahren genossen Fußballfans einen eher schlechten Ruf. Ein Trikot abseits des Rasens zu tragen, bedeutete, sich einer Subkultur zugehörig zu zeigen, die vor allem wegen gewaltbereiter Hooligans in den Medien war. Die wenigen spezialisierten Einzelhändler, die Trikots verkauften, hatten deshalb vor allem sporttreibende Kinder zu ihrer Zielgruppe gemacht. Forscher an der Universität Sheffield untersuchten viele Jahre später das Trikot auf seinem Weg von reiner Sportausrüstung zum Massenprodukt und fanden heraus: Bis 1988 trugen verschwindend wenige Stadionbesucher Trikots. Dann aber erfuhr der Sport einen neuen Hype, Fußball wurde hip und die Kinder der Siebzigerjahre erwachsen. In der Rave-Szene hatten die bunten Prints und komfortablen Stoffe Anklang gefunden, US-Rapper wie Snoop Dogg trugen Trikots und damit zu ihrer Normalisierung bei.

Seine größten Crossover-Momente findet das Trikot auch heutzutage in der Promiwelt. Es begann (wie in den Neunzigern) mit HipHoppern, die in den späten Zehnerjahren das PSG-Trikot zu ihrer Uniform machten, und hat sich seither verselbständigt. Der US-Rapstar Travis Scott trat neulich in Hamburg in einem alten HSV-Trikot auf. Popstar Dua Lipa verkauft ihr eigenes Merchandise im Trikotlook, Herbert Grönemeyer auch. Die „Vogue“ führte die Beliebtheit des Fußballlooks bei Celebrities auch auf Bob Marley zurück: Der Reggae-Sänger (und begeisterte Spieler) trug bereits in den Siebzigern Fußballkleidung im Alltag, zum Beispiel das Adidas-Schuhmodell „Samba“. Der schlichte Sneaker mit den drei Streifen war laut Shopping-Plattformen und Modemagazinen auch 2023 der beliebteste Turnschuh auf dem Markt. Sogar High-Fashion-Marken bedienen sich für ihre Kollektionen im Fußball. Einige Designer basteln Krawatten, Hochzeitskleider und Taschen aus alten Trikots. Auch Giganten wie Balenciaga, Jacquemus und Wales Bonner machen da mit.

Was wiederum die Begehrlichkeiten von jungen Leuten weckt. Das Geschäft von Stunner und anderen Hipster-Trikothändlern wird überhaupt erst möglich, wenn echte Trendsetter ihre Ware zur Schau stellen. Das Supermodel Bella Hadid, Stilikone der Generation Z, trug mal ein altes Exemplar von Manchester United, Kim Kardashian wiederum ein Trikot der AS Rom aus der Saison 1997/98. Wie Francesco Totti damals. Was sie wohl zu seiner Ballannahme sagen würde?

In Manchester werden mit Trikots Millionen gemacht

Etwas überrascht von dem Hype ist auch der Engländer Gary Bierton. 2018 habe sich alles verändert, sagt er, als Nigeria ein WM-Trikot veröffentlichte, das vom Shirtdesign der Neunziger inspiriert war. „Es wurde das begehrteste Shirt der Welt“, erklärt Bierton. „Damals wurde uns klar: Kulturell hat das Trikot ein neues Level erreicht. Die sozialen Medien haben einen Riesenunterschied gemacht. Wir haben auch eine Rolle gespielt, zumindest glaube ich das gern.“ Der Brite ist in seinen Dreißigern, trägt Sporthose und Sneaker. Er sieht eher nicht wie ein Modeinfluencer aus, dafür weiß er ganz genau, was es mit dem Trikotphänomen auf sich hat. Bierton steht in einer Lagerhalle in Hyde, etwa eine halbe Stunde von Manchesters Stadtmitte entfernt. Er war der erste Angestellte von Classic Football Shirts, einem Unternehmen, das sein älterer Bruder 2006 mit einem Uni-Kumpel in ihrer Studenten-WG gegründet hat. Am Anfang sollte Bierton nur Trikots auf ihre Echtheit überprüfen. „Damals haben sie mir noch nicht mehr zugetraut“, lacht er.

Eigentlich wollten die Gründer bloß alte Trikots sammeln, tauschen, seltene Schätze aufspüren. Ein wenig wie Stunner am Anfang. Nur dass Classic Football Shirts mittlerweile ein global agierender Konzern ist und Besucher heute in einem 70 000-Quadratmeter-Lagerhaus empfängt. Und dass es in dem Unternehmen Positionen wie die von Gary Bierton gibt, der keine Fakes mehr entlarvt, sondern als „Chief Growth Officer“ und dritte Spitze der Firma arbeitet. „Es gab damals keine vertrauenswürdige Website, die Fußballtrikots verkauft hat“, erklärt Bierton den Erfolg. Das HSV-Trikot, das Travis Scott beim Konzert und auf Instagram trug, hat dessen Stylistin bei ihnen besorgt.

Classic Football Shirts sortiert und prüft jedes Trikot genau auf seine Authentizität.

Im Gegensatz zu Stunner mit seinem Boutique-Flair gleicht CFS eher einer Massenfabrik. Statt Lichterketten werden die Trikots in einer riesigen fensterlosen Lager-Etage von strengen LED-Leuchten an der Decke angestrahlt. In großen Kisten und Regalen stapeln sich die Trikots, einige sind schon gefaltet, andere liegen noch auf einem Haufen. Schreibtische quillen vor lauter Stoff über – Arsenal, Man United, Bayern München, Rot, Gelb, Weiß, Blau, Gold. Auf dieser Ebene wird neue Ware verarbeitet, die noch nicht auf der Website gelistet ist. Die Trikots, die hier sortiert werden, kommen aus aller Welt. Von Vereinen, Ausstattern, Privatpersonen. „Wir arbeiten mit einem Netzwerk, das die Shirts für uns kauft“, sagt Bierton. Mit einem Netzwerk? Bierton lächelt. „Alles, was wir in die Finger kriegen können.“

Aber ein paar Zahlen hat er: Classic Football Shirts, sagt Bierton, habe die größte Sammlung von Vintage-Trikots weltweit. Im Lager bewahren sie 500 000 verschiedene Trikots auf, einige doppelt und dreifach. Damit könnte man grob überschlagen 23 000 Mannschaften ausstatten. Hier gibt es Büros, in denen Marketing-Gurus arbeiten, Social-Media-Experten, aber auch Personal in Warnwesten, das Pakete abfertigt oder Waschmittel dosiert. Oder eben Gary Bierton, der mittlerweile in London wohnt und nach Manchester pendelt. Er ist eh ständig unterwegs, dauernd auf der Suche nach neuem Stoff. Morgen fliegt er nach New York, wo Classic Football Shirts neben den Standorten in London und Manchester einen dritten Store eröffnet. Auch Berlin hat man bereits getestet: Während der Europameisterschaft betrieb das Unternehmen auf der Torstraße einen temporären Pop-up-Store. „Wir sind nur ein paar Gebäude von Surpreme entfernt“, hatte der Manager des Ladens damals zufrieden gesagt, ⁣„ich glaube, wir teilen uns eine Kundschaft.“ Das ist interessant, weil Supreme zwar als Skater-Label startete, heute aber mit Louis Vuitton kollaboriert und Jacken für 3200 Euro verkauft. Klingt also nicht gerade nach dem üblichen Fußballpublikum, das Stehplätze unter zwanzig Euro verlangt.

Sind Vintage-Shirts ein Mittelfinger an den modernen Fußball?

Was den Hype um die Vintageware umso spannender macht. Denn vielleicht ist der Trend, so sehr er sich auch nach hyperkommerzialisierter Fußballdystopie anfühlt, von ähnlichen Faktoren motiviert wie, sagen wir mal, Fanszenen, die sich gegen Investoren auflehnen. Das wäre die wohlwollende Theorie. Auch Ultras wünschen sich oft die alten Zeiten zurück, als man noch für einen Zehner in die Kurve durfte, sich nicht alles um Geld und Vermarktung drehte. Und als die Fußballer auf dem Platz noch in den Trikots aufliefen, die heute für Unsummen bei Classic Football Shirts verhökert werden. Natürlich ohne Ärmelsponsoren.

Das Paradies existiert! CFO Gary Bierton im Archiv von Classic Football Shirts

Trikots können wortlos ganze Saisons nacherzählen. Sie können an ein Tor erinnern, an die flüchtigsten Momente im Fußball, die eigentlich nicht wiederkehren. Man träumt sich mit ihnen also in bessere Zeiten zurück – oder zumindest in eine Zeit, von der man annimmt, dass sie besser war. In den USA war erstmals in den Siebzigerjahren von dem „Phänomen Nostalgie" die Rede, damals fand der Soziologe Fred Davis heraus, dass Nostalgie meist eine Reaktion auf disruptive Ereignisse sei, ein Ausdruck der Angst vor großen gesellschaftlichen Veränderungen. „Auch in der Popkultur machte sich das bemerkbar“, schrieb Davis. „Teile der Jugend besannen sich in den Siebzigern auf die vorgeblich einfachere Zeit der fünfziger Jahre zurück, insbesondere auf den Rock’n’Roll.“ In den Nuller- und Zehnerjahren waren so plötzlich Bandshirts aus den Neunzigern angesagt, und auf einmal konnte man Motörhead- und Nirvana-Shirts bei H&M und Topshop kaufen.

Auch Gary Bierton macht die Entfremdung der Fans für die Sehnsucht nach dem Alten verantwortlich: „Es ist Nostalgie, Mann“, sagt er. Fans würden die Idee eines Sports mit Ecken und Kanten vermissen, anders als das Hochglanzprodukt von heute. „Vintage-Trikots sind wie ein Mittelfinger an den modernen Fußball“, sinniert Bierton. Eine ganz schön gewagte Theorie: Sündhaft teure Textilien und Modetrends als Auflehnung gegen den Turbokapitalismus. Biertons Blick wandert ein Regal entlang, als suche er nach einem Beispiel für seine These, ein Trikot, das symbolisiert: Früher war alles anders. So schwer dürfte das nicht sein, mittlerweile steht er in der größten Halle des Gebäudes, wo der Bestand der Website gelagert wird. Dass der Retrotrend längst auch bei den Großkonzernen angekommen ist, sich Vereine in ihren Trikotkampagnen voller Nadelstreifen und Neunzigerhommagen am Hype beteiligen, während Labels wie Adidas ganze Trikotjahrgänge von Weltmeisterschaften vor dreißig Jahren als Replikate neu auflegen und damit mit dem angeblichen Antikommerz der Fans noch mehr Geld verdienen, bringt Bierton nur zum Lächeln. Dem Geschäft schadet es nicht, im Gegenteil. Ironisch ist es trotzdem. Den „Teufelskreis des Kapitalismus“ nennt Bierton das. Während er in seiner Lagerhalle steht und selbst Geld in die Kassen der Klubs spült: Sein Unternehmen war als Brustsponsor bereits auf den Trikots von fünf Vereinen zu sehen, darunter dem FC Burnley.

Ein Stück weit hat Bierton vermutlich recht. Und das obwohl Classic Football Shirts, so wirkt es manchmal, irgendwo zwischen Studentenapartment und 50-Millionen-Pfund-Konzern einen Teil seiner Seele verloren hat. Der Shop lässt sich kaum noch unterscheiden von einem Sneaker-Store in einer deutschen Innenstadt, und im Keller gibt es ein hippes Café. Die Filiale in Manchester verkauft zwar immer noch Vintage-Unikate, ist jedoch auch mit aktuellen Trikots von Manchester City vollgestopft. Bierton und sein Bruder sind United-Anhänger, haben aber mit dem Stadtrivalen und Scheichklub einen exklusiven Deal ausgehandelt. Sogar ein Shirt vom saudischen Verein Al-Nasr kann man hier kaufen, RB Leipzig sowieso. Nur manchmal wird man daran erinnert, dass dieser Einzelhandelsriese aus der Nostalgie dreier Studenten entstand. Wenn man ihre Geschichte liest, die auf einer der Wände niedergeschrieben ist, zum Beispiel. Oder wenn auf den Bildschirmen zwischen den eigenen Werbespots immer mal wieder „Football Italia“ läuft, genau wie bei Stunner.

Wenn Vereine zu Modemarken werden

Es ist nicht so, als wäre Biertons Unternehmen der alleinige Treiber der Fashion-Bewegung im Fußball. Oder als wäre sie für ihn persönlich nicht mehr als ein Einnahmenboost. Der Engländer spricht ehrfürchtig über den Stoff, in dem seine Kindheitshelden spielten. Nennt man ihm Jahrgang und Verein einer beliebigen europäischen Liga, kann er mit leuchtenden Augen und beeindruckender Genauigkeit von Print, Ausstatter, Farbe und Spielszenen schwärmen. Das alles kauft man ihm ab, Lagerhaus hin oder her. Und CFS sind ja nicht die Einzigen, die im Trikot eine Goldgrube identifiziert haben. Immerhin sind es die Vereine, deren Kampagnen zunehmend nicht mehr den Otto-Normal-Fan auf dem Weg ins Stadion oder Spieler abbilden, sondern Models, die auf Yachten posieren. Ungefähr so ist der FC Venedig 2021 berühmt geworden, nachdem ein Marketingprofessor den Viertligisten mit Hochglanzfotos und goldenen Trikots versehen hatte. Mittlerweile verfolgen zahlreiche Vereine eine ähnliche Strategie, Real Madrid ließ vor einigen Jahren ein Auswärtstrikot vom japanischen Star-Mode-Designer Yohji Yamamoto entwerfen. Der US-Sport – von Baseball bis Basketball – vermarktet sein Merchandise schon lange nicht mehr bloß an Sportfans, sondern auch an Modebegeisterte. Und wie so oft zieht Europa hinterher. Noch so eine Strategie, um sich vom Kurvengänger zu emanzipieren. Dabei geht es nicht um Vintage-Trikots oder Nostalgie, das Geschäft von Classic Football Shirts, zumindest nicht nur. Die Designs sind weniger an die wilden Prints des letzten Jahrhunderts angelehnt, sondern sehen aus wie die Garderobe eines Country Clubs. Oder der Adligen: Der FC Versailles fotografiert seine Kampagnen in einem Schloss Baujahr 1675. Das liegt doch ein wenig weiter zurück als der letzte Scudetto der AS Rom.

Weniger Boutique-Charme, mehr Massenfabrik: Aus Classic Football Shirts ist ein global agierender Juggernaut geworden.

Die Zielgruppe, so scheint es, sind dabei auch gar nicht mehr jene Fans, die Woche für Woche ins Stadion pilgern oder den Fußball mit ihren TV-Abos bereits mitfinanzieren. Stattdessen erreichen Klubs und Marken mit goldenen Logos und Edelwerbung Menschen wie Polina. „Sie sind wunderschön, purer Stil“, lobt sie zum Beispiel die Venedig-Trikots. Die Shirts mit dem goldenen „V“ auf der Brust sind mittlerweile auch bei Classic Football Shirts beliebt, obwohl sie nicht klassisch im Sinne von Vintage sind. Sondern einfach nur schick. Um einen Mittelfinger in Richtung Fußballkommerz zu strecken, müssten Kunden den Unterschied kennen zwischen einem Trikot der besseren Zeiten und dem pinken Juve-Auswärtshemd von 2016, dessen Wert um rund 300 Prozent stieg, nachdem es der kanadische Rapper Drake auf einem Instagram-Foto getragen hat. Einfach weil es mit dem Promi-Stempel versehen wurde. (Es war übrigens ein Fake. Das Adidas-Logo fehlte.)

Bootlegs findet man bei Classic Football Shirts nicht. Weder auf der Website noch im Laden. Und vor allem nicht an der letzten Station, die Gary Bierton seinem Gast zeigt. Hinten im Lagerhaus von CFS in Hyde wartet der schiere Wahnsinn. Bei circa 17 Grad bewahren die Gründer hier ihre persönliche Sammlung auf. Beinahe jedes Trikot in diesem Raum wurde von einem ehemaligen Fußballer getragen. Über zehn Hemden von Oliver Kahn hängen nebeneinander. An einem klebt Blut, vermutlich war es zwar eher nicht das legendäre Golfballtrikot, wundern würde einen aber auch das nicht. Ansonsten hängt hier nämlich alles: von einem Trikot, in dem Pelé Weltmeister geworden ist, bis zu Braunschweiger Jägermeister-Relikten. Wie viel die Sammlung wert ist? Diese Zahl ist nicht öffentlich. Aber sie ist hoch. Es scheint fast, als wäre Bierton diese Schatzkammer ein wenig unangenehm.

Stolz ist er aber auch. Besonders auf ein Exemplar, das einst den Körper von Cristiano Ronaldo zierte: das letzte Jersey, das der Portugiese jemals in Diensten von Sporting Lissabon trug. In jenem goldenen Trikot spielte er damals Manchester United fast allein an die Wand. Danach nahm der englische Klub den damals 18-Jährigen unter Vertrag. Wo er diese Rarität aufgetrieben hat, möchte Bierton nicht verraten, er sagt nur: „Es ist verrückt, so etwas in der Hand zu halten.“

(aus 11Freunde Spezial „Trikots!“)

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