Von Baumwollleibchen zu globalen Megasellern: Das Fußballtrikot hat eine erstaunliche Karriere hingelegt.
Jeder von uns erinnert sich an sein erstes Trikot. An das erste Leibchen mit Wappen und Nummer. An das Frottesana-Trikot des VfB Stuttgart. An das Hitachi-Hemd des Hamburger SV. An das Opel-Trikot des FC Bayern. Wir erinnern uns, weil wir mit den Trikots unzählige Geschichten verbinden, von Auswärtsfahrten, von Tränen vor dem Fernseher, von den Idolen unserer Jugend. Die alten Trikots erzählen von einer Zeit, in der wir uns in den Fußball und unseren Klub verliebten, ohne zu ahnen, welch teuflischen Pakt wir da eingehen.
Heute erzählen viele dieser Trikots nicht nur von unserer persönlichen Beziehung zum Fußball, sondern auch die Geschichte der rasanten Revolution, die der Fußball in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat. Noch in den siebziger Jahren waren Trikots aus Stoff, mit oftmals noch aufgenähten Nummern und Wappen, erhältlich nur in Sportgeschäften und auf der Geschäftsstelle. Heute dagegen sind sie nach zahlreichen Metamorphosen einer der größten Faktoren in der Wertschöpfungskette professioneller Fußballklubs. Die neuen Jerseys großer Vereine wie Real Madrid, Manchester United oder FC Barcelona verkaufen sich millionenfach, zumal wenn der Name eines prominenten Neuzugangs auf dem Rücken prangt. Bedienten sich die Klubs früher aus dem überschaubaren Katalog der einschlägigen Sportartikler, werden heutzutage neue Designs mit solchem Pomp vorgestellt wie sonst nur exaltierte Frühlingsmode in Paris, und die Spieler promenieren in Trikots mit aufwendigen Mustern und Applikationen. Dass die Leibchen nur noch entfernt an Fußballtrikots erinnern, ist dabei ebenso gewollt wie die Stoffschnitte, die nur noch selten der eher zylindrischen Figur zahlreicher Fußballfans Tribut zollen. Dass die Hemden früherer Jahrzehnte heute so verehrt werden und bei Auktionen hohe Preise erzielen, hat viele Gründe. Neben der geringen Stückzahl und einem oft bestechend schlichten Design ist es vor allem die Nostalgie, die viele der alten Jerseys umflort. Welcher in die Jahre gekommene VfB-Anhänger erinnert sich beim Anblick eines alten Baumwolltrikots nicht gern an die großen Jahre unter Jürgen Sundermann? Welcher Bayern-Fan denkt beim Magirus-Deutz-Schriftzug nicht sofort an Rummenigge und Breitner im roten Trikot? Und kein Kölner, der das schmucke Doppeldusch-Trikot nicht mit jenen Zeiten verbindet, als der säbelbeinige Litti noch die Gegner umkurvte und Gerd Strack mitleidslos gegnerische Achillessehnen lochte. Vor allem aber erinnert sich jede und jeder noch an jenen Moment, als wir zum ersten Mal das Trikot überzogen und uns plötzlich sehr zugehörig fühlten, weil auch wir das Wappen unseres Lieblingsklubs auf der Brust trugen.
Diese Identifikation machen sich die Klubs heute auf ziemlich dreiste Weise zunutze, indem sie neue Spielkleidung im Akkord auf den Markt schmeißen. Dabei hat die atemlose Frequenz, mit der Heimtrikots, Auswärtstrikots, Ausweichtrikots, Pokaltrikots und Sondertrikots vorgestellt werden, zwar dafür gesorgt, dass Fußballfans alle paar Monate das Portemonnaie öffnen müssen – die Wertschätzung des einzelnen Leibchens in der Anhängerschaft hat hingegen ziemlich gelitten. Zumal sich unter den neuen Hemden zahlreiche gänzlich indiskutable Varianten finden, absurde Farbkombinationen und unmodische Applikationen, die ohne das Vereinswappen nicht einmal auf den Wühltischen einschlägiger Discounter ihren Platz finden würden. Absurderweise werden auch diese Varianten von den Anhängern erworben, nur aus notorischem und abgestumpftem Pflichtbewusstsein, als ordentlicher Fan die Sammlung komplett halten zu wollen.
Was mindestens so absurd anmutet wie der steile und offenbar unaufhaltsame Aufstieg des Fußballtrikots zum alltäglichen Kleidungsstück. Früher wurden die Jerseys ausschließlich im Stadion und ganz eventuell noch in der Stammkneipe getragen. Heute gehören Trikots insbesondere der internationalen Spitzenklubs zum allgegenwärtigen Bild in den Innenstädten: lauter Messis, Ronaldos und Mbappés mit Einkaufstüten und Softeis in der Hand. Man sieht sie in den Videos zahlreicher Regionalrapper und in einschlägigen Szenecafés. Was natürlich alles ein großes Rätsel ist, denn bei Licht und ohne begleitende Fußballromantik sind Trikots eher hässliche Kleidungsstücke. Oberhemden aus preisgünstig gefertigtem Kunststoff in grellen Farben, garniert mit Ärmelsponsoren und fremden Namen auf dem Rücken. Wer Pech hat, trägt obendrein das Logo eines Hähnchenschlachters oder eines halbseidenen Wettanbieters auf der Brust. Strenggenommen müssten die Klubs ihren Anhängern noch ein hübsches Sümmchen überweisen, damit sie diese oft sensationell geschmacklos gestaltete Sponsorenwerbung spazierentragen, stattdessen werden etwa für Ärmelaufkleber zusätzliche Gelder verlangt und tatsächlich gezahlt.
Und doch gibt es inmitten dieses ganzen Fashion-Wahnsinns noch bei vielen Anhänger ein gewisses Bedürfnis nach Authentizität. Kein Wunder, dass in den einschlägigen Rankings immer jene Trikots gut wegkommen, die sich an die traditionellen Klubfarben halten und auf modische Experimente verzichten. Fußballvereine sind eben keine Desigual-Filialen. Was wiederum nicht bedeutet, dass sich die Klubs keine Gedanken machen dürfen, was den Anhängern gefallen könnte. Ist ja nichts gegen geschmackvolle neue Trikots zu sagen. Aber die sollten dann halt nicht danach aussehen, als hätte sich während der ersten Brainstorming-Session ein magenkrankes Einhorn erbrochen.
Ohnehin gilt die Faustregel: Je hässlicher die aktuellen Trikots, desto mehr blüht der Markt für antike Jerseys. Für Originale jenseits der Jahrtausendgrenze werden inzwischen oft Mondpreise gezahlt, insbesondere dann, wenn sie in legendären Spielen getragen wurden. So lukrativ ist die Jagd nach alten Oberhemden, dass die einschlägigen Fälscherwerkstätten in Fernost inzwischen auch sehr spezielle Varianten im Programm haben und naive Zeitgenossen für derlei dreist gefälschte Kleidung viel zu viel Geld ausgeben. Bis heute frage ich mich: Wie blöd kann man, also ich, sein, bei Ebay ein Arminia-Trikot mit Abtei-Werbung aus der Saison 1987/88 für stolze 320 Euro zu erwerben, um später festzustellen, dass der Städtename auf dem Rücken in der Herstellungshektik ohne „i“ geschrieben wurde? Natürlich bleibt im privaten Handel immer eine Restunsicherheit, ob das angebotene Trikot wirklich echt ist. Nur selten kann die Authentizität so schlagkräftig bewiesen werden, wie im Falle eines Schalke-Trikots von Jörg Böhme, das von einem Anbieter als matchworn, also im Spiel getragen, beworben wurde. Auf die Rückfrage des Kaufinteressenten, ob das Trikot denn echt sei, antwortete die Verkäuferin, sie würde sich für die Echtheit verbürgen: „Ich bin seine Ex-Frau!“
Was wieder einmal beweist: Jedes Trikot erzählt uns eine Geschichte. Wir fingern ein Hemd von Real Madrid aus dem Schrank und sehen Luis Figo und Zinédine Zidane vor uns. Wir betrachten ein viel zu großes rot-blaues Bayern-Trikot und sehen Mehmet Scholl und Alexander Zickler. Das blaue Seidensticker-Trikot lässt Gerd-Volker Schock und Christian Sackewitz wieder Tore auf der Bielefelder Alm schießen. Und das Schalke-Trikot wurde wirklich von Jörg Böhme getragen. Sagt jedenfalls seine Ex-Frau.
(aus 11Freunde Spezial „Trikots!“)